Lotse sein, heißt immer auch vorausdenken

Auf dem Weg zum nächsten Job: Lotsenversetzboot auf der Unterelbe, Foto: Arndt

Rainer Petrick, Foto: LBE
Sie sind für die Schifffahrt unverzichtbar in allen Revieren auf dieser Welt: die Lotsen. Ihr Arbeitseinsatz: 24/7/365, also das ganze Jahr über, bei jedem Wetter. Ihr gemeinsames Ziel: Die Schifffahrt sicher machen. In Deutschland gibt es ein sehr gut organisiertes Lotswesen.
Rainer Petrick, 2. Ältermann bei der Lotsenbrüderschaft Elbe (LBE) mit Sitz in Brunsbüttel, ist einer von bundesweit rund 914 Lotsen, die sich auf neun Brüderschaften an Nord- und Ostsee verteilen. Er sagt: „Seeleute sind geschult und darin ausgebildet, die Schiffe auf den freien Seeräumen fahren zu können.“ Auf den Weltmeeren sei man meist allein unterwegs. Das ist im Ärmelkanal oder in der Deutschen Bucht anders. Seegebiete, die zu den am stärksten befahrenen der Welt gehören. Was diese Bereiche zusätzlich herausfordernd macht: Es gibt nicht nur Ost-West-Verkehre und vice versa, es gibt auch ungezählte Kreuzungs- und Querverkehre. Dazu die Fischereifahrzeuge, die für sich genommen ein gewisses Eigenleben führen. Es gibt intensive Fährverkehre, und es gibt zunehmend auch Offshore-Windparks, die zwar in genau definierten Bereichen errichtet wurden und weiterhin werden. Doch auch sie muss die Berufsschifffahrt im Blick behalten.
Bevor der verantwortungsvolle Lotsenberuf ausgeübt werden kann, bedarf es einer jahrelangen Ausbildung, die natürlich bereits mit dem Nautik-Studium beginnt, auch wenn es da zunächst um den Erwerb der entsprechenden Patente geht, die einen zum Kapitän befähigen. Sich für den Lotsen zu entscheiden, ist immer dann auf der Tagesordnung, wenn eine Verwendung an Land angestrebt wird, wenn die Lotsen-Interessenten genug haben von der großen Fahrt.
Dabei könnte man die „Güte“ eines Lotsen auch mit diesem, zugegeben etwas plakativen, Satz ganz gut umschreiben, der sich an den Slogan eines großen Luftverkehrsunternehmens anlehnt: „Miles and more.“ Das „Mehr“ ist vor allem die Erfahrung, wie Schiffe reagieren. Dabei gibt es immer wieder Überraschungen auf der Brücke. Solche Effekte können beispielsweise Wind, Strömungen oder auch sich plötzlich entwickelnde komplexe Verkehrssituationen sein. Elblotse Petrick weiß das: „Wenn man einen Lkw stoppt, dann steht er. Wenn man aber ein Schiff aufstoppt, dann erfolgt die Wirkung erst nach mehreren Seemeilen.“ Und weiter: „Die ‚Beschleunigung‘ gerade bei modernen Schiffen sei ebenfalls nicht berauschend. Petrick erklärt: „Vor dem Hintergrund, Brennstoff zu sparen, werden Maschinen eingebaut, die, verglichen mit älteren Motoren-Generationen nicht mehr so leistungsstark sind.“ Man brauche aber eine bestimmte Geschwindigkeit, „um steuerfähig zu bleiben.“
Auch die Wassertiefe hat Einfluss auf die Manövrierfähigkeit. Der Elblotse: „Ein Schiff mit wenig Abstand zwischen seinem Kiel und dem Seeboden „saugt“ sich gewissermaßen mit dem Propeller an. Petrick: „Dadurch können ungewollte Steuereffekte entstehen.“ Außerdem verändert sich das Fahrwasser ständig, im Wesentlichen ausgelöst durch die natürliche Strömung. Das Wasser „trägt“ Sand und Schlick mit, die auch unter dem Einfluss von Gezeiten an bestimmen Stellen abgelegt werden. So entstehen schnell Untiefen, also etwa Sandbänke. Durch Strömungen und starke Winde, die dann wieder entsprechenden Wellengang auslösen können, werden zudem Wracks freigelegt, Mit anderen Worten: Der Seeboden ist dynamischen Einflussfaktoren ausgesetzt. Für den Seemann heißt das auch: Die Seekarten gut im Blick behalten und Veränderungen regelmäßig mitplotten, also Korrekturen oder zusätzliche Einträge vornehmen. Die Technik, etwa die elektronische Seekarte, kurz „ENC“, hilft zwar schon weiter. Aber ein guter Seemann verlässt sich nicht nur darauf. Korrekturen am Kartenmaterial würden in den regelmäßig befahrenen Seegebieten in der Regel im Zwei-Wochen-Abstand vorgenommen, in Zeiten mit Starkwinden sogar noch häufiger, berichtet Petrick.
Und dann beschreibt er diese typische Situation: „Einfahrt in die Elbmündung. Dort ist es selten windstill. Meist bläst es aus Südwest bis West, „das heißt der Wind kommt Höhe Cuxhaven von der Seite.“ Ein Problem für einen großen Containerfrachter, der mit seiner hoch gestapelten Ladung auf den Wind reagiert wie ein Segelschiff. „Wir müssen darauf achten, in der Kurve nicht auf die falsche Fahrwasserseite gedrückt zu werden.“ Gleich hinter der Kurve „muss man sehen, dass man die Geschwindigkeit rechtzeitig reduziert, damit man in Höhe der ‚Kugelbake‘ – dem bekannten Wahrzeichen von Cuxhaven – nur noch mit ungefähr zehn Knoten unterwegs ist, der Richtgeschwindigkeit vor Cuxhaven.“ Bei einer höheren Geschwindigkeit könnten Sog und sogenannter Schwell an den Hafenanlagen und den dort liegenden Schiffen Schäden verursachen, erklärt der Lotse. „Dahinter gehts gleich nach Backbord herum, da muss man wieder ‚Gas geben‘, um die Kurve zu kriegen.“
Mit Generalkurs Hamburg kommt bereits nach wenigen Seemeilen auf der Elbe der Hafen Brunsbüttel auf der Backbordseite in Sicht, zugleich der Ein- und Ausgang zum NOK, die weltweit verkehrsreichste künstliche Wasserstraße. Petrick berichtet aus seiner Berufspraxis, dass „Kapitäne immer wieder vergessen, den Blick über die Schulter nach achtern zu richten, wenn sie in den NOK einfahren. Gerade wenn sie über Funk hören, dass die Schleuse noch auf sie wartet, „könnten sie unvermittelt beidrehen und dabei den Kurs eines von achtern aufkommenden Containerschiffs plötzlich queren. Petrick weiß: „Das ist eine latente Gefahr, die immer wieder auftaucht.“
Wenn sich ein kleines 90-Meter-Schiff vor ein Großcontainerschiff legt, dann sei es hinter den Brückenfenstern mit der Gelassenheit vorbei, sagt der 48-Jährige. Der „Große“ könnte nicht in der Kürze der Zeit reagieren. Bislang habe es in solchen Situationen keine Unfälle gegeben, „aber enorm viele Schrecksekunden“, berichtet der erfahrene Nautiker, der im Laufe seiner Berufsjahre viele Erlebnisse hatte, die erzählenswert wären. Doch der Berufsalltag ist auch: Ganz normales Fahren.
Natürlich ist der Beruf des Lotsen auch in dieser Hinsicht das, was man „gefahrengeneigt“ nennt. Ein Klassiker, bei dem es immer wieder eng werden kann, gerade bei schlechter Sicht, bei Wellengang im eiskalten Winter: Das Übersteigen vom Lotsenversetzboot auf einen Frachter und umgekehrt. Als Lotse erklimmt man die steile Bordwand in der Regel über eine Jakobsleiter. Petrick: „Aber die ganz großen Höhen sind selten. Die großen Container- und Passagierschiffe haben meist eine Pforte in der Bordwand, die auf der für ein Lotsenversetzboot richtigen Höhe in den Schiffsrumpf fest integriert ist. Man klettert gar nicht mehr so viel über Leitern, vielleicht sind es mal fünf Stufen.“ EHA/dpa